Wenige Meter vor Alice hockte die Grinsekatze auf einem Baum. „Grinsepussi!“ redete sie die Katze an, ziemlich unsicher, weil sie nicht wußte, ob ihr der Name behagte. Indessen grinste die Katze noch breiter. „Na, das scheint ihr zu gefallen“, dachte Alice und fuhr fort: „Würdest du mir bitte sagen, welchen Weg ich einschlagen muß?“
„Das hängt in beträchtlichem Maße davon ab, wohin du gehen willst“, antwortete die Katze.
„Oh, das ist mir ziemlich gleichgültig“, sagte Alice.
„Dann ist es auch einerlei, welchen Weg du einschlägst“, meinte die Katze.
„Hauptsache, ich komme irgendwo hin“, ergänzte sich Alice.
„Das wirst du sicher, wenn du lange genug gehst“, sagte die Katze.
(Lewis Carroll, Alice im Wunderland)
Labyrinthe sind so alt wie die Menschheit: Man findet Abbildungen in der Bronzezeit, bei den Hopi-Indianern, bei den Kretern (s.a. Geschichte des Minotauros), den Griechen, Römern u. a. Völkern. Auch als rituelle Tanzform blieben sie erhalten. In der Frühzeit finden sich Labyrinthe als Spiralen, vielleicht archaische Ausdrucksformen der Gebärmutter. Daher wird häufig kulturgeschichtlich argumentiert, daß das, was wir heute unter einem Labyrinth verstehen, in Wirklichkeit ein sog. Irrgarten sei. Ein Labyrinth hingegen sei ein einzelner Weg, welcher mit einem großen Umweg und vielen Schleifen zur Mitte (dem Ziel) führe.
Auch die Kirche eignete sich die Ausdrucksform des Labyrinthes an: So finden sich in einigen Kirchen als Einlegearbeiten Labyrinthe. Ein sehr anschauliches Beispiel dafür bietet die Kathedrale von Chartres aus dem 13. Jahrhundert, deren eingelegtes Labyrinth dem des Minotauros ähnelt. Die Wege dieses rund 13 m im Durchmesser großen Umgangslabyrinthes (elf konzentrische Kreise) sind jeweils 34 cm breit, grau wie der umliegende Steinboden und voneinander durch schwarz-blaue Marmorstreifen getrennt; die Gesamtlänge des Weges beträgt 294 m. Sakrale Labyrinth-Intarsien finden sich zumeist zwischen Querschiff und Chor. Lt. den Überlieferungen liefen die Pilger diese Labyrinthe ab, bevor sie den Chor betraten. Die Labyrinthe sind theologisch als Symbol für die Nicht-Geradlinigkeit des Lebens, seine Stolpersteine und Umwege, die es bietet, zu verstehen. Wenn man das Labyrinth = Leben aber durchschritten hat, kommt man zum Chor = Heiligtum, zur Läuterung, zum Ziel.
Wohl jede Zeit hat sich des Labyrinthes als Ausdrucksform angenommen. Im Manierismus und im Barock wurde es aber eine richtige Mode, speziell in der Gartenarchitektur. Der Barock ist die Zeit der verwinkelten Irrgärten. Die Neigung des Barocks zum Verspielten und zum Geometrisieren der Gärten kam dieser Mode sehr entgegen. Die Wände solcher Gärten bestanden entweder aus übermannshohen, blickdichten Hecken, die manch diplomatische Aktivität oder Vergnügung erleichterte, oder der Garten war zweidimensional lediglich auf dem Boden angedeutet mit entsprechenden Kieswegen oder Grasbepflanzungen.
Louis XIV ließ 1672-1677 in Versailles einen solchen Irrgarten erbauen. Die Wege waren von fünf Meter hohen Hecken begrenzt; über den Park verstreut fanden sich 333 bunt angemalte, gruppierte Skulpturen. Jede Gruppe erzählte eine Fabel von Äsop, und der jeweils vorgestellte »Redefluß« einzelner Tiere wurde durch eine in die Figur eingebaute Fontäne symbolisiert. Insgesamt gab es 39 solcher Wasserspiele.
Den Eingang des Parks bewachten zwei Statuen, Amor (C) und Äsop (B). Amor zeigt Äsop ein Garnknäuel (Faden der Ariadne) als Hilfe beim Transit des Labyrinths. Äsop hebt mahnend den rechten Zeigefinger und hält mit der linken Hand Amor eine Schriftrolle entgegen, wohl um zu warnen, daß man sich nicht nur auf einen Faden verlassen, sondern auch den Verstand einsetzen solle. Besucher regte es an, kurz innezuhalten und metaphorisch über des eigenen Lebens Weg zu sinnieren.
Der Park lockte nach Fertigstellung so viele Besucher an, auch ausländische, daß der Schriftsteller Perrault 1675 sogar einen Gartenführer schrieb, der Wasserspiele und Fabeln erläuterte. Nach über 100 Jahren war jedoch Schluß: Wegen der hohen Wartungskosten ließ Louis XVI den Garten 1778 durch ein Arboretum im englischen Stil ersetzen.
In der Neuzeit gibt es eine Renaissance der Irrgärten als künstlich angelegte Irrwege in den Maisfeldern – sehr zur Freude der Kinder und junggebliebener Erwachsener. Oft finden auch Hanf o.a. blickdichte Pflanzen Verwendung. Obgleich den Sommermonaten vorbehalten, sind viele dieser Irrgärten durchaus anspruchsvoll: Einige Wege sind über einen Kilometer lang und benötigen eine Stunde, sofern man nicht mogelt.
Mit dem Aufkommen von Computerspielen und Labyrinth-Generatoren ergänzten computergenerierte Irrgärten bald auch Papier und Bleistift. Ebenfalls entwickelten sich computerbasierte Methoden zur Lösung eines Irrgartens. Im folgenden Abschnitt werden ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Methoden vorgestellt, um ein Ziel im Irrgarten zu finden, wobei das Ziel entweder einen Ort innerhalb des Gartens darstellt (z.B. ein Schatz), den Eingang oder einen separaten Ausgang. Zur Illustration wird der Ausschnitt eines Irrgartens verwendet (s. Legende).
Die in der Sage vom Minotaurus beschriebene Methode ist einfach: Wickele ab Betreten des Irrgartens ein Garnknäuel ab. Folge dem Garnknäuel, um wieder zum Eingang zurückzufinden.
Die Methode ähnelt dem Versuch von Hänsel und Gretel im gleichnamigen Märchen der Gebr. Grimm, die auf dem Weg in den Wald ausgestreuten Brotkrumen wieder zu finden. Praktisch ist die Garnknäuel-Methode allerdings kaum zu verwenden, sei es, weil der Irrgarten zu komplex oder kein Garnknäuel zur Hand ist.
Die Methode ist leicht zu merken, da sie nur aus einer Regel besteht: Durchlaufe ab Betreten den Irrgarten so, daß immer die linke Hand an einer Wand bleibt. Kommt man zu einer Abzweigung links, folgt man ihr also. Wenn man sich bereits bei Betreten des Irrgartens an diese Regel hält, kommt man garantiert wieder heraus, wenn auch zumeist nicht auf dem kürzesten Weg, da u.U. der Irrgarten komplett abgelaufen wird. Oft durchläuft man viele Gänge zweimal, in jede Richtung einmal. Die Regel läßt sich spiegelbildlich auch für die rechte Hand verwenden (Rechte-Hand-Regel). Die Weglängen beider Varianten können erheblich differieren. Entscheidet man sich für eine Hand, darf sie im Irrgarten nicht mehr gewechselt werden.
Eine Einschränkung gilt es bei Irrgärten mit Inseln (autarke Zentralstrukturen, die nicht mit der Außenwand verbunden sind) zu beachten: Folgt man erst nach dem Verirren der Regel, kann man Glück haben (Abb. 1) oder Pech, falls sich die Hand gerade an einer solchen Insel befindet, denn dann läuft man nur im Kreis und erreicht nie den Ausgang (Abb. 2). Liegt hingegen das Ziel selbst in einer Insel, erreicht man es trotz konsequenter Anwendung der Regel ab Eingang des Irrgartens nicht, sondern findet nur zurück zum Ein- oder Ausgang.
Das Problem mit Inseln zu lösen versprechen nun die Methoden von Trémaux und Pledge:
Benannt nach John Pledge aus Exeter in England, der im Alter von zwölf diese Strategie erfunden haben soll [Abelson und diSessa], erweitert die Pledge-Methode die Linke-Hand-Methode um die Fähigkeit, Inseln zu verlassen, statt sie als Trabant ewig zu umkreisen. Dazu bedarf es einer zweiten Regel, die den Absprung von einer Insel definiert.
Ein naiver Ansatz wäre, immer geradeaus zu laufen, bis man auf eine Wand trifft und ihr solange zu folgen, bis man die ursprüngliche Richtung erreicht hat; dann geht man wieder geradeaus bis zur nächsten Wand. Dies kann funktionieren (Abb. 3), muß es aber nicht, da man auch hier in eine Schleife gefangen werden kann (Abb. 4). Die Methode besteht abwechselnd aus geraden Strecken (in der Abb. als gestrichelte Linie dargestellt) und Wanderungen entlang der Wand (als durchgezogene Linie dargestellt).
Ein besserer Ansatz zählt die Drehungen, die man an Ecken vollführt und hält sie in einem Drehzähler fest. Eine Möglichkeit ist z.B., beginnend bei Null für jede rechtwinklige linke Drehung den Drehzähler um 1 zu erhöhen, für jede rechtwinklige rechte Drehung entsprechend um 1 zu erniedrigen. Erst wenn der Drehzähler wieder den Wert Null besitzt, geht man wieder geradeaus (Abb. 5). Für Wegesysteme, die auch spitze oder stumpfe Winkel aufweisen, empfiehlt sich eine genauere Drehungsmessung, z.B. mit einem Kompaß.
Die Ende des 19. Jh. vom frz. Fernmelde-Ingenieur Trémaux entwickelte Methode zielt wie die Pledge-Methode darauf ab, die Probleme der Linke-Hand-Methode mit Inseln zu beseitigen. Bei dieser durch Lucas 1882 beschriebenen Methode [Lucas] ist es wichtig, Anfangs- und Endpunkt eines jeden Weges zu markieren, um zu wissen, aus welchem Gang man gekommen ist und ob man schon einmal hier gewesen ist. Ein Sack Steine oder Kreide wird interessierten Probanden empfohlen. Diese Methode führt in jedem endlichen Irrgarten ans Ziel bzw. zum Ausgang, wenn auch nicht immer auf dem kürzesten Weg. Gibt es keinen Ausgang, werden alle Wege zweimal beschritten, bevor wieder der Eingang erreicht wird. Analog zum Königsberger Brückenproblem läßt sich diese Methode auch graphentheoretisch lösen. Das Verfahren von Trémaux funktioniert nur, wenn man an jedem Platz (Wegmündung, Kreuzung, Wegstern) weiß, welche der einmündenden Wege bereits wie oft durchlaufen wurden. Es bestehen mehrere Abwandelungen (Tarry 1895, Fraenkel 1971, Gal und Anderson 1990) der Trémauxschen Methode.
Ein Weg mit zwei Markierungen am Eingang sollte gemäß Regel 2 also nicht mehr betreten werden: Zwei Markierungen sperren den Weg. Regel 2 verhindert somit, daß Wege mehr als zweimal durchlaufen werden. Eine Sackgasse ist nach ihrem Verlassen ebf. zweimal am Eingang markiert und somit gesperrt.
Regel 3 merzt die konzeptuelle Schwäche der Linke-Hand-Regel (wiederholtes Im-Kreis-Laufen) aus. Sie erschließt durch Backtracking weitere Wege im bisher besuchten Gebiet, bevor Wege zu neuen Arealen beschritten werden. Somit wird sichergestellt, daß kein Weg ausgelassen wird.
In der oben abgebildeten Schrittfolge in Abb. 6 bis 8, die sich zwecks Vergleichbarkeit an den Abbildungen vorgen. Methoden orientiert, liegt der Start inmitten des abgebildeten Areals, wobei bei gleichwertigen Ausgängen linke Wege bevorzugt werden. Das Areal ist nach Verlassen im Schritt 3 noch nicht gesperrt (der Eingang ist nur einmal markiert). Falls man später zum Areal zurückkommen sollte, kann man es also noch einmal betreten. In der untenstehenden Abb., in der der Startpunkt außerhalb des Areals liegt, ist jedoch das Areal nach seinem Verlassen gesperrt.
Tarrys Regeln [Tarry] ähnelt graphentheoretisch somit der Tiefensuche.
Die folgenden Methoden jüngeren Datums sind nur am Modell oder in einer Simulation am Computer sinnvoll anwendbar.
Die 1957 publizierte Methode [Bellman] ist einfach, jedoch nur in einer Simulation verwendbar. Stark vereinfacht ausgedrückt lautet sie: Fülle den Irrgarten mit Wasser und folge der Flutwelle (das Wasser fließt am Ausgang ab). Leider ist sie, befindet man sich selbst in einem Irrgarten, nicht praktikabel.
Die Sackgassenfüllung [Fraenkel] ist nur in einem Computerprogramm sinnvoll anwendbar. Hierzu werden alle Sackgassen gesucht und dann bis zur ersten anschließenden Kreuzung „gefüllt“ (gesperrt). Der verbleibende, nicht gefüllte Weg stellt die Lösung dar.
Auch die Shortest-Path-Methode [Moore] ist nur in einem Computerprogramm sinnvoll anwendbar. Hierzu werden alle mit dem aktuellen Standort verbundenen Plätze in aufsteigender Entfernung gesucht, bis das Ziel gefunden ist. Die Distanz zwischen Start und jeweiligem Platz muß dazu gemerkt werden. Die Shortest-Path-Methode stellt graphentheoretisch somit eine Breitensuche dar und garantiert, wie der Name schon impliziert, bei mehreren möglichen Streckenverläufen zwischen Start und Ziel den kürzesten Weg.
Etliche Suchstrategien sind nur in einem Computerprogramm oder in einer Modellsicht sinnvoll nutzbar. Als praktisch nutzbar und sicher zur Orientierung in einem echten Irrgarten bzw. Höhlensystem sind die Linke-Hand-Methode, die Pledge-Methode und die Methode nach Trémaux nebst Variationen zu nennen. Letztere versagt jedoch in Situationen, in denen man keine Markierungsmöglichkeiten hat oder es stockdunkel ist, z.B. in Höhlen ohne Lichtquellen. Hier hilft einem noch die Methode nach Pledge weiter. In einer dunklen Höhle, die unmerkliche Krümmungen oder nicht-orthogonale Ecken aufweist, wird ohne jegliches Licht und ohne Hilfsmittel selbst dies schwierig und die Linke-Hand-Methode verbleibt als einzige Möglichkeit – mit der bekannten Einschränkung, daß sie einen nur dann wieder sicher herausbringt, sofern man sie bereits ab Betreten des Irrgartens konsequent angewandt hat. Ist auch dies nicht der Fall, ist guter Rat teuer und muß man versuchen, andere Umgebungsaspekte zu Rate ziehen (in Höhlensystemen Luftzug und -feuchtigkeit, Geräusche, Steigung etc.). Auch Beten kann helfen, für Höhlen empfiehlt sich Ps. 130: De profundis clamavi ad te Domine.
LabGen ist ein OpenGL-Programm für Windows / Linux, das Irrgärten graphisch visualisiert oder ggf. auch generiert. Hier muß der Benutzer selbst seinen Weg finden! Am Ziel wird die benötigte Zeit ausgegeben. Eigene Irrgärten, Texturen und Klänge sind möglich.
Der LabBot ist ein noch aus der DOS-Ära stammendes Programm, das Irrgärten textbasiert visualisiert. Unter Windows ist es unter der Kommandozeile aufzurufen. Mit jedem Tastendruck des Benutzers wandert der Bot einen Schritt weiter.
Wer mag, kann die von den Programmen benötigten Text-Labyrinth-Landkarten in ein Bildformat konvertieren.